Es ist halb drei Uhr morgens, ich liege wach in meinem Hotelzimmer in San Francisco und lausche den nächtlichen Geräuschen, die mich vom Schlafen abhalten. Wobei Hotelzimmer eher geprahlt ist. Aber die 4,5 qm ohne Fenster waren das Einzige, was unter 100 US-Dollar die Nacht zu haben war – Dusche und Klo zur Gemeinschaftsnutzung auf dem Flur, versteht sich. Der Nachbar von gegenüber, der immer mit offener Tür zum Gang schläft, dreht den Fernseher noch einmal ein bisschen lauter. Ich tippe auf eine Belastungsstörung, weil er sich fast panisch weigert, die Tür zu schließen. Seufzend drehe ich mich auf die Seite; das Ohr nach oben ausgerichtet, auf dem ich sowieso nicht so gut höre. Früher am Abend bin ich von einer Wanderreise zurückgekommen. Ich hatte Mühe, das Hotel mit seinem schmalen Eingang zu finden, meine ganzen Campingutensilien in einem riesigen Plastiksack auf dem Rücken tragend, mir den Weg durch Dutzende von rufenden und schimpfenden Obdachlosen bahnend. Der Stadtteil heißt Mission und nur drei Straßen weiter reiht sich ein schickes Restaurant an das andere, während hier, wo ich wohne, das Elend herrscht. Staatliche Unterstützung für die vielen stark traumatisierten und drogenabhängigen Menschen? Fehlanzeige.
Das ist nur einer von unendlich vielen,
häufig schwer zu ertragenen Widersprüchen, die in den USA zu finden sind. Vom Tellerwäscher zum Millionär, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der "American Dream"–was ist von dem Mythos übriggeblieben, jeder Mensch könne reich werden, sofern er sich nur ausreichend anstrengt? Oder war das immer schon eine Mär? Das Bild der USA in Europa, zumindest in Deutschland, hat jedenfalls über die Jahrzehnte stark gelitten.
Dazu beigetragen haben mutmaßlich der immer wieder sichtbare politische Allmachtsanspruch, insbesondere von republikanischen Regierungen, verbunden mit dem Auftreten als "Weltpolizei" und die mangelnde staatliche Fürsorge für die Bürger des Landes. Bürger, die ihr Land verteidigt haben und nun auf der Straße leben, Bürger, die drei Jobs haben müssen, um ihre Familie zu ernähren oder Bürger, die erkranken und mangels Geldes nicht die nötige Gesundheitsversorgung bekommen. Ein in vielen liberalen europäischen Augen falsch verstandener traditioneller Freiheitsgedanke, der die Einführung einer Krankenversicherung für alle als staatliche Einmischung ablehnt, Rassismus, polizeiliche Willkür, Frauenfeindlichkeit–all das sind Schlagworte, die in den Augen liberaler Europäerinnen und Europäer ein negatives Bild von den USA vermitteln. Schlagworte, die oft überlagern, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung eben nicht in dieses Bild gehören.
Mir ist an dieser Stelle wichtig zu sagen: Auf Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft und Gesprächsbereitschaft treffen Reisende gerade in ländlichen Staaten wie Montana –in einer Art, der man in Deutschland,
dem Land der, äh, nennen wir es einmal vorsichtig "Land der Individualisten", nicht unbedingt häufig begegnet.
Geschätzte 80 Prozent der Menschen dort würden anhalten, wenn sie mich mit einer
Reifenpanne am Straßenrand auffänden. Wie viele wären es wohl hier? Die meisten Menschen in Montana wählen die Republikaner, auch mit–oder gerade wegen–Donald Trump an der Spitze. Klar, eine konservative bis ins Antidemokratische reichende Gesinnung und Mitmenschlichkeit
sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich wundere mich trotzdem immer wieder.
Warum ich trotzdem so ein Faible für die USA habe: Die Weite und
die Vielfalt der Natur des amerikanischen Westens hauen mich um – immer wieder auf' s
Neue. Deswegen schreibe ich Wanderbücher mit diesem Schwerpunkt–die Einsamkeit, die Tiere, das Andersartige:Wer einmal
gesehen hat, wie sich das Licht auf den Sandsteinschichten der weiten Canyons des
Colorado Plateau in Utah und Arizona bricht, wird immer wieder kommen
wollen.Manchmal frage ich mich, ob das Thema Umweltschutz wohl häufig deswegen politisch
und gesellschaftlich in den USA vernachlässigt wird, weil soviel an Natur da ist. Donald Trump war–„by the way“–der Präsident,
der unter anderem das Bears Ears National Monument in Utah drastisch
verkleinern wollte–mit dem Ziel, weite Teile dieses landschaftlich sehr besondere Schutzgebiet
wirtschaftlich nutzbar zu machen.
Ein Beispiel für das schlichtweg gesellschaftlich fehlende Bewusstsein für einen
sorgfältigen Umgang mit Ressourcen ist das Thema Plastik: Wenn ich mir einen „latte to go“ kaufe, sage ich in der Regel, dass
ich keinen Plastikdeckel möchte. Meist wird dies sofort vergessen; der
Deckel ist schneller drauf, als ich gucken kann. Alles junge, hippe Leute, die
in den Coffee-Shops arbeiten, sich entschuldigen und den Deckel dann in den
Mülleimer werfen. Sie verstehen gar nicht, warum ich ihn nicht wollte.
Allerdings steht im Bereich Umwelt- und Klimaschutz zumindest aktuell ein Wandel an: Die US-Regierung unter Joe
Biden hat im Herbst 2022 das Inflationssenkungsgesetz an den Start gebracht. Es sieht neben anderen Maßnahmen
vor, etwa 400 Milliarden Dollar in die Förderung von Klimaschutz und erneuerbarer Energien zu investieren–und investiert damit in zukunftsweisende Technologiefelder, wenngleich der Deal als freihandelsfeindlich kritisiert wird.Allerdings stellt sich hier die Frage, ob es nicht eher eher eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit ist, die erkannt wurde, als es hier wirklich um den Schutz von Natur und Umwelt geht.
Jetzt ist das Jahr 2022 und die so genannten Midterms, die Zwischenwahlen, haben die so genannte „Rote Welle“, die in beiden Kammern des Kongresses einen Sieg der Republikaner beschert hätte, verhindert. Die von Donald Trump eingesetzten Kandidaten für die Senatorenwahlen wurden größtenteils nicht gewählt.
Daher hatin den Zwischenwahlendie schon traditionelle Abstrafung der regierenden Partei somit nicht stattgefunden. Dies war ein guter Tag für die Demokratie, wenngleich das drohende Gespenst in Gestalt von Donald Trump noch nicht verschwunden ist. Fraglich ist auch, ob beispielsweise ein Ron DeSantis, mutmaßlicher Anwärter der Republikaner auf das höchste politische Amt in den USA und damit Konkurrent von Donald Trump, als Präsident die Spaltung des Landes durch eine radikal-konservative Politik weiter vorantreiben würde.
An meinem letzten Abend in San Francisco sitze
ich mit der Anwältin Alicia Gomez in einem Lokal im Mission District an der
Bar. Sie stammt von dort und wohnt seit langer Zeit in dem Stadtteil, der sicherlich nicht für jedermann ein geeigneter Ort ist, um sich niederzulassen. Ich erzähle ihr, wie sehr ich die USA und San Francisco liebe–trotz des
Elends in den Großstädten, dem aus "europäischer" Sicht fahrlässigen Umgang mit Natur und
Ressourcen und der schwierigen Nähe
großer Teile der Bevölkerung zu einem Mann, der die Demokratie mit Füßen tritt.
„Ich bin froh, dass Du dieses Land so liebst, trotz der Ecken und Kanten. Und hier immer wieder herkommst“, sagt
Alicia zu mir. „Letztendlich ist es wichtig, im Gespräch zu bleiben, damit die Menschen und die Politiker hier nicht denken, dass die USA der Nabel der Welt sind und auch mit anderen Meinungen konfrontiert werden.“ Ich finde, dass dies auch andersherum gilt, dass Ressentiments gegenüber den USA abgebaut werden könnten, wenn man sich mehr mit den Menschen unterhält. Dass man viel lernen kann. Und dass in einer globalisierten Welt, in der die USA nach wie vor der größte und wichtigste Verbündete Europas ist, Verbindungen knüpfen, Austausch pflegen und die Neugier am Anderen, Fremden beibehalten, wichtig sind. Und umso wichtiger wird, je schwieriger die politische Weltsituation und die Aufgaben werden, die damit verbunden sind.
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