Blog Post

Sehnsuchtsland USA: Ist da noch was übrig vom "American Dream"?

  • von Dagmar Grutzeck
  • 16 Dez., 2022
Blick auf eine Häuserreihe im Mission District in San Francisco
Der Mission District in San Francisco hat viele Seiten

Es ist halb drei Uhr morgens, ich liege wach in meinem Hotelzimmer in San Francisco und lausche den nächtlichen Geräuschen, die mich vom Schlafen abhalten. Wobei Hotelzimmer eher geprahlt ist. Aber die 4,5 qm ohne Fenster waren das Einzige, was unter 100 US-Dollar die Nacht zu haben war – Dusche und Klo zur Gemeinschaftsnutzung auf dem Flur, versteht sich. Der Nachbar von gegenüber, der immer mit offener Tür zum Gang schläft, dreht den Fernseher noch einmal ein bisschen lauter. Ich tippe auf eine Belastungsstörung, weil er sich fast panisch weigert, die Tür zu schließen. Seufzend drehe ich mich auf die Seite; das Ohr nach oben ausgerichtet, auf dem ich sowieso nicht so gut höre. Früher am Abend bin ich von einer Wanderreise zurückgekommen. Ich hatte Mühe, das Hotel mit seinem schmalen Eingang zu finden, meine ganzen Campingutensilien in einem riesigen Plastiksack auf dem Rücken tragend, mir den Weg durch Dutzende von rufenden und schimpfenden Obdachlosen bahnend. Der Stadtteil heißt Mission und nur drei Straßen weiter reiht sich ein schickes Restaurant an das andere, während hier, wo ich wohne, das Elend herrscht. Staatliche Unterstützung für die vielen stark traumatisierten und drogenabhängigen Menschen? Fehlanzeige.

Land of contradiction

Das ist nur einer von unendlich vielen, häufig schwer zu ertragenen Widersprüchen,  die in den USA zu finden sind. Vom Tellerwäscher zum Millionär, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der "American Dream"was ist von dem Mythos übriggeblieben, jeder Mensch könne reich werden, sofern er sich nur ausreichend anstrengt? Oder war das immer schon eine Mär? Das Bild der USA in Europa, zumindest in Deutschland, hat jedenfalls über die Jahrzehnte stark gelitten.

Dazu beigetragen haben mutmaßlich der immer wieder sichtbare politische Allmachtsanspruch, insbesondere von republikanischen Regierungen, verbunden mit dem Auftreten als "Weltpolizei" und die mangelnde staatliche Fürsorge für die Bürger des Landes. Bürger, die ihr Land verteidigt haben und nun auf der Straße leben, Bürger, die drei Jobs haben müssen, um ihre Familie zu ernähren oder Bürger, die erkranken und mangels Geldes nicht die nötige Gesundheitsversorgung bekommen. Ein in vielen liberalen europäischen Augen falsch verstandener traditioneller Freiheitsgedanke, der die Einführung einer Krankenversicherung für alle als staatliche Einmischung ablehnt, Rassismus, polizeiliche Willkür, Frauenfeindlichkeitall das sind Schlagworte, die in den Augen liberaler Europäerinnen und Europäer ein negatives Bild von den USA vermitteln. Schlagworte, die oft überlagern, dass mindestens die Hälfte der Bevölkerung eben nicht in dieses Bild gehören.

Mir ist an dieser Stelle wichtig zu sagen: Auf Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft und Gesprächsbereitschaft treffen Reisende gerade in ländlichen Staaten wie Montana  –in einer Art, der man in Deutschland, dem Land der, äh, nennen wir es einmal vorsichtig "Land der Individualisten", nicht unbedingt häufig begegnet. Geschätzte 80 Prozent der Menschen dort würden anhalten, wenn sie mich mit einer Reifenpanne am Straßenrand auffänden. Wie viele wären es wohl hier? Die meisten Menschen in Montana wählen die Republikaner, auch mitoder gerade wegenDonald Trump an der Spitze. Klar, eine konservative bis ins Antidemokratische reichende Gesinnung und Mitmenschlichkeit sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Ich wundere mich trotzdem immer wieder.

Ansicht eines Highway in Montana
Unendliche Weite: Ein Highway in Montana, USA

Natur oder der verschwenderische Umgang mit Ressourcen

Warum ich trotzdem so ein Faible für die USA habe: Die Weite und die Vielfalt der Natur des amerikanischen Westens hauen mich um – immer wieder auf' s Neue. Deswegen schreibe ich Wanderbücher mit diesem Schwerpunktdie Einsamkeit, die Tiere, das Andersartige:Wer einmal gesehen hat, wie sich das Licht auf den Sandsteinschichten der weiten Canyons des Colorado Plateau in Utah und Arizona bricht, wird immer wieder kommen wollen.Manchmal frage ich mich, ob das Thema Umweltschutz wohl häufig deswegen politisch und gesellschaftlich in den USA vernachlässigt wird, weil soviel an Natur da ist. Donald Trump war„by the way“der Präsident, der unter anderem das Bears Ears National Monument in Utah drastisch verkleinern wolltemit dem Ziel, weite Teile dieses landschaftlich sehr besondere Schutzgebiet wirtschaftlich nutzbar zu machen.

Ein Beispiel für das schlichtweg gesellschaftlich fehlende Bewusstsein für einen sorgfältigen Umgang mit Ressourcen ist das Thema Plastik: Wenn ich mir einen „latte to go“ kaufe, sage ich in der Regel, dass ich keinen Plastikdeckel möchte. Meist wird dies sofort vergessen; der Deckel ist schneller drauf, als ich gucken kann. Alles junge, hippe Leute, die in den Coffee-Shops arbeiten, sich entschuldigen und den Deckel dann in den Mülleimer werfen. Sie verstehen gar nicht, warum ich ihn nicht wollte.

Allerdings steht im Bereich Umwelt- und Klimaschutz zumindest aktuell ein Wandel an: Die US-Regierung unter Joe Biden hat im Herbst 2022 das Inflationssenkungsgesetz an den Start gebracht. Es sieht neben anderen Maßnahmen vor, etwa 400 Milliarden Dollar in die Förderung von Klimaschutz und erneuerbarer Energien zu investierenund investiert damit in zukunftsweisende Technologiefelder, wenngleich der Deal als freihandelsfeindlich kritisiert wird.Allerdings stellt sich hier die Frage, ob es nicht eher eher eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit ist, die erkannt wurde, als es hier wirklich um den Schutz von Natur und Umwelt geht.

Blick auf den Moki Dugway, der durch das Valley of the Gods im Bears Ears National Monument führt
Blick auf den Moki Dugway, der durch das Valley of the Gods im Bears Ears National Monument führt

Demokratie in Gefahr?

Jetzt ist das Jahr 2022 und die so genannten Midterms, die Zwischenwahlen, haben die so genannte „Rote Welle“, die in beiden Kammern des Kongresses einen Sieg der Republikaner beschert hätte, verhindert. Die von Donald Trump eingesetzten Kandidaten für die Senatorenwahlen wurden größtenteils nicht gewählt.

Daher hatin den Zwischenwahlendie schon traditionelle Abstrafung der regierenden Partei  somit nicht stattgefunden. Dies war ein guter Tag für die Demokratie, wenngleich das drohende Gespenst in Gestalt von Donald Trump noch nicht verschwunden ist. Fraglich ist auch, ob beispielsweise ein Ron DeSantis, mutmaßlicher Anwärter der Republikaner auf das höchste politische Amt in den USA und damit Konkurrent von Donald Trump, als Präsident die Spaltung des Landes durch eine radikal-konservative Politik weiter vorantreiben würde.

Wichtig in einer globalen Welt: Die Neugier am Anderen

An meinem letzten Abend in San Francisco sitze ich mit der Anwältin Alicia Gomez in einem Lokal im Mission District an der Bar. Sie stammt von dort und wohnt seit langer Zeit in dem Stadtteil, der sicherlich nicht für jedermann ein geeigneter Ort ist, um sich niederzulassen. Ich erzähle ihr, wie sehr ich die USA und San Francisco liebetrotz des Elends in den Großstädten, dem aus "europäischer" Sicht fahrlässigen Umgang mit Natur und Ressourcen und der schwierigen Nähe großer Teile der Bevölkerung zu einem Mann, der die Demokratie mit Füßen tritt. „Ich bin froh, dass Du dieses Land so liebst, trotz der Ecken und Kanten. Und hier immer wieder herkommst“, sagt Alicia zu mir. „Letztendlich ist es wichtig, im Gespräch zu bleiben, damit die Menschen und die Politiker hier nicht denken, dass die USA der Nabel der Welt sind und auch mit anderen Meinungen konfrontiert werden.“ Ich finde, dass dies auch andersherum gilt, dass Ressentiments gegenüber den USA abgebaut werden könnten, wenn man sich mehr mit den Menschen unterhält. Dass man viel lernen kann. Und dass in einer globalisierten Welt, in der die USA nach wie vor der größte und wichtigste Verbündete Europas ist, Verbindungen knüpfen, Austausch pflegen und die Neugier am Anderen, Fremden beibehalten, wichtig sind. Und umso wichtiger wird, je schwieriger die politische Weltsituation und die Aufgaben werden, die damit verbunden sind.

Ansicht des Restaurants Luna Kitchen im Mission District in San Francisco
Das Restaurant Luna Kitchen im Mission District, San Francisco
von Dagmar Grutzeck 14. September 2024
Der dritte Part des Crosstown Trail quer durch San Francisco führt zum Grand View Park. Kommt mit und genießt die schönsten Blicke über die Stadt!
von Dagmar Grutzeck 24. Juli 2024
Ihr wollt in die USA reisen? Was Ihr beim Autofahren in den USA beachten müsst erfahrt Ihr hier.
von Dagmar Grutzeck 10. Juli 2024
Zwischen Stadtdschungel und bunten Wassertanks: Kommt mit und wandert den zweiten, 4,8 km langen Teil des Crosstown Trail durch San Francisco!
von Dagmar Grutzeck 16. Mai 2024
Ihr wollt den schönen Hamburger Norden im Mai entdecken? Hier findet Ihr alle Einzelheiten zur tollen Wandertour vom Kupferteich zum Raakmoor!
von Dagmar Grutzeck 25. Januar 2024
Ihr wisst nicht genau, welche Regenkleidung zum Wandern bei schlechtem Wetter geeignet ist? Dann lest hier, wir Ihr trocken bleibt, ohne ins Schwitzen zu kommen!
von Dagmar Grutzeck 23. Dezember 2023
Ihr seid in San Francisco und wollt mal ganz neue Facetten der Stadt kennenlernen? Lest hier, was Ihr Tolles machen könnt und gleichzeitig Euer Reisebudget schont!
von Dagmar Grutzeck 29. November 2023
Macht es mir nach und wandert den ersten Teil des 24 km langen San Francisco Crosstown Trail quer durch die Stadt. Ihr lernt garantiert viel Neues!
von Dagmar Grutzeck 26. Oktober 2023
Die Wanderung zum Tolmie Peak Fire Lookout garantiert grandiose Blicke auf Mount Rainier in Washington -- mit moderatem Aufwand. Ihr wollt wissen, was Euch erwartet? Lest hier alles Wissenswerte zu dem Trip!
von Dagmar Grutzeck 11. Oktober 2023
Dieser Beitrag fasst zusammen, was ein ethischer und verantwortungsvoller Umgang mit der Natur bedeutet. Hättet Ihr alles davon gewusst oder gar Egänzungen?
von Dagmar Grutzeck 21. September 2023
Ihr seit im Crater Lake National Park und wollt den See mal von oben sehen? Dann macht wie ich die kurze Tour auf den Mount Scott. Lest hier, wie das geht!
Show More
Share by: