Oft bin ich allein unterwegs auf meinen Wanderreisen, aber manchmal gelingt es mir, eine potentielle Begleitung von der Sinnhaftigkeit eines solchen Trips zu überzeugen. So geschehen auf einer meiner Reisen für das Buch „Wandern in den Rocky Mountains“. Eine Freundin, nennen wir sie Tina, begleitete mich dankenswerterweise quer durch die „Rockies“ und teilte mit mir so einige Abenteuer. Eines haben wir in in einem sehr speziellen Ort namens Silver Gate am Osteingang des Yellowstone National Park erlebt. Diese Hand voll Blockhütten liegt malerisch inmitten von gezackten Bergen und direkt an einem Flüsschen. Ganze sieben Menschen wohnen hier dauerhaft, im Winter ist die Zufahrtsstraße häufig gesperrt. Und die Geschichte, die ich mit Tina dort erlebte, geht so:
In dem verschlafenen Silver Gate mieten Tina und ich uns eine kleine Cabin im Pine Ede Resort am Rande der Berge. Sie hat eine tolle Veranda mit "View" auf den gegenüberliegenden Gebirgszug und ist mit liebevollen Details stilvoll und praktisch eingerichtet. Nachdem wir zwei wunderbare Tage lesend, wandernd sowie auf der Verandagammelndverbracht haben, müssen wir diese Idylle nun leider verlassen, weil sich bereits neue Urlauber angekündigt haben. Allerdings gibt es eine Alternative für uns, wie mir ein junger Mitarbeiter des Ressorts, das unsere Hütten betrieb, berichtete. So könnten wir in der noch nicht vollständig renovierten Range Rider Lodge, einem ehemaligen Saloon, übernachten. Genauer gesagt in den Zimmern über dem Saloon, die früher ein Bordell waren. Wie würde das wohl aussehen, das Haus, wir sind gespannt und werden nicht enttäuscht. Ich liebe es wirklich sehr, wenn Klischees ihren Ursprung enthüllen, wie in diesem Fall: Das Gebäude ist riesig, komplett aus Holz und sieht genau so aus, wie man es aus diversen Western kennt -- mit einer riesigen Bar und einer Galerie, die einmal rundum den Korridor im ersten Stock führt. Ich sehe die Fräuleins förmlich vor mir, in ihren viktorianischen Kleidern.
Im ersten Stock waren diverse kleine Räume entlang der rundum führenden Galerie angeordnet, in denen zu Goldgräberzeiten die Prostituierten logierten. Namenschilder verwiesen auf ihre früheren Bewohnerinnen. Wir bezogen die Zimmer von Sue und Emily, die hier früher offensichtlich ihre Dienste angeboten hatten. Es war Samstagabend und unten im Saloon wurde die Bar geöffnet. Nach einem bodenständigen Mahl im Log Cabin Cafe schlenderten wir zu unserer Behausung zurück und nahmen noch einen Drink an der Bar und politisierten ein wenig mit den „Lokals“. Um elf Uhr hieß es für uns dann allerdings schon „ab ins Bett“ und auch die Bar wurde wenig später geschlossen, wie wir hören konnten. Die Stimmen entfernten sich und die Lichter wurden gelöscht. Jetzt waren wir ganz allein im Haus.
Als ich gerade im Begriff war einzuschlafen und mich fragte, ob ich wohl doch lieber noch einmal die Toilette aufsuchen sollte, hämmerte es an meine Tür. Tina schlief tief und fest in ihrem Zimmer, von meinem durch eine Verbindungstür getrennt. „Let me in“, verlangte jemand mit Nachdruck und einer tiefen Bassstimme. Von wegen. Dann rüttelte er auch noch an der Tür – gut, dass ich abgeschlossen hatte - und wiederholte mehrfach seinen Wunsch nach Einlass. Ich, die ich mir derweilen fast in die Hose machte vor Angst, hatte in der Zwischenzeit Tina geweckt. Irgendwann hörte das Klopfen und Rufen auf. Nun aber musste ich wirklich dringend auf die Toilette, die sich jedoch außerhalb unserer Zimmer befand. Tina, die die Szene eher im Halbschlaf verfolgte, versprach, wach zu bleiben. Sie setzte sich auf mein Bett, aß einen Müsliriegel und war tatsächlich noch nicht wieder eingeschlafen, als ich von meinem stockfinsteren Ausflug zur Toilette zurückkam. Ich war so froh, dass ich niemanden mehr auf der dunklen Galerie angetroffen hatte.
Die Moral von der Geschichte, die sich nie aufgeklärt hat: Immer abschließen und Silver Gate ist für jede Art von Erlebnis gut. Wir waren jedenfalls schockverliebt in diesen Ort, trotz Männern, die möglicherweise zu tief ins Glas geschaut und Schwierigkeiten hatten, den Weg nach Hause zu finden.
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