Ein zartes Meckern, das kontinuierlich lauter wird, weckt mich am frühen Morgen in meinem ansonsten stillen Domizil auf Kreta. Es erscheint mir sehr nah, fast als stünden die Ziegen, die mutmaßlich für das Meckern verantwortlich sind, direkt vor meinem Fenster. Ich stehe also auf und betrete die Terrasse, um nachzusehen: immer dem Geräusch nach! Da stehen sie, die Ziegen – direkt hinter dem 1,5 m hohen Zaun, der das Grundstück meiner Ferienunterkunft vom öffentlichen Land des mit Büschen und kleinen Bäumen bewachsenen Hang trennt. Einer der Kri-Kri mit dem hellen Fell, wie die Wildziegen hier auch heißen, ist der Mutwillen schon in ihr Ziegengesicht geschrieben: Sie mustert mich frech und positioniert sich auf einem flachen Stein, nachdem sie zunächst mit ihren Vorderhufen die Höhe des Zauns abgecheckt hat. Ehe ich einmal trocken schlucken kann, springt sie aus dem Stand an mir vorbei über den Zaun auf die Terrasse und fängt sogleich an, sich über die zarten Oleander-Knospen herzumachen...
Was soll ich Euch sagen? Es hat einen halben Tag gedauert, sie wieder nach draußen zu buchsieren. Frei nach dem Motto “Ich war schließlich zuerst hier” ist sie ausdauernd im munteren Zickzack durch den Garten am Hang getobt – immer sprungbereit und immer eine Handbreit vor den Leuten, die versucht haben, sie in Richtung Tor zu dirigieren.
Die Kretische Wildziege, auch als Kri-Kri oder Agrimi bekannt, ist eine wahre Überlebenskünstlerin, die auf steilen Felsen und Klippen der kretischen Berge lebt. Die Kri-Kri, größer als die gewöhnliche Hausziege, wird durchschnittlich 1,3 m lang und hat ein hellbraunes Fell. Ihr Erkennungsmerkmal ist der dunkle Streifen auf ihrem Rücken und ihre relativ langen, nach hinten gebogenen Hörner. Sie kann über große Entfernungen springen und sich geschickt über sehr steile Felsen bewegen. Sie ist ausschließlich auf der Insel Kreta und den drei benachbarten Inseln Dia, Theodorou und Agii Pantes heimisch. Vorfahren der heutigen Kri-Kri sollen vor fast 10.000 Jahren aus Asien gekommen sein.
Früher war die Kretische Wildziege auf ganz Kreta verbreitet, doch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde sie in weiten Teilen der Insel so stark verfolgt, dass sie fast nur noch in der Samaria-Schlucht in den Weißen Bergen eine Zuflucht fand. Ihr Fleisch war sehr begehrt und die Inselbewohner stellten aus ihren Hörnern Bögen her. Ab 1928 wurden ausgewählte Tiere auf den vorgelagerten Inseln Theodorou, Agii Pantes und Dia gebracht, um dort neue Herden aufzubauen. Bis 1960 war der Bestand der Kretische Wildziege auf unter 200 Tiere gesunken: Sie wurde immer gern gejagt während ihres zarten Fleisches und galt während des Zweiten Weltkriegs während der deutschen Besatzung als einzige Fleischquelle der Bergguerilla. Ihr Seltenheitsstatus war einer der Gründe, warum die Samaria-Schlucht in den 1960er Jahren zum Nationalpark erklärt wurde. Heute leben ungefähr 2.000 Tiere auf Kreta, die aber weiterhin gewildert werden -- was streng verboten ist. Hinzu kommen die Verarmung des Genpools durch Hybridisierung mit Hausziegen, die Verknappung der Weidegründe sowie die stärkere Beeinträchtigung durch Krankheiten.
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